Mittwoch, 6. Januar 2010

Epochen: Naturalismus

Naturalismus (1880-1900)

An den Realismus geknüpft erfolgt eine strikte Befolgung realistisch-materialistischer Erkenntnisse. Auf der einen Seite eine radikalisierende Betrachtung realistischer Zustände und Kritik, auf der anderen Seite, so im Impressionismus, eine zunehmende Subjektivierung der realen Wirklichkeit.
Der Naturalismus fiel in die letzten Jahre Bismarcks und die ersten Jahre Kaiser Wilhelms II., also in die Blütezeit des politischen und wirtschaftlichen Imperialismus.
Die soziale Frage wird auch in der Literatur thematisch erfasst, verbunden mit einer Angst vor dem Verlust eigener Individualität.
Detaillierte Beobachtungen gehören zum Hauptstilmerkmal der epischen Dichtung, im Sinne möglichst objektiver Darstellung der Realität.

Begriff
Naturalismus allgemein bezeichnet eine Stilrichtung, bei der die Wirklichkeit exakt abgebildet wird, ohne jegliche Ausschmückungen oder subjektive Ansichten.
Als gesamteuropäische, literarische Strömung wird der Naturalismus als erste Phase innerhalb der europäischen Literaturrevolution, der Moderne, angesehen. Der Naturalismus gilt auch als Radikalisierung des Realismus.

Historischer Hintergrund
Zu Beginn der 1880er Jahre kam es zu großen Fortschritten und Weiterentwicklungen in den Wissenschaften. Z.B. 1884 wurde die Dampfturbine, 1887 die Schallplatte und 1893 der Dieselmotor erfunden.
Bestimmend für die innen- und außenpolitische Entwicklung war Reichskanzler Bismarck. 1878 schuf der das Sozialistengesetz. 1879 ging er den Zweibund mit Österreich ein, 1882 wurde dieser mit der Mitgliedschaft Italiens zum Dreibund erweitert. 1887 wurde der Rückversicherungsvertrag mit Russland geschlossen. Im Deutschen Reich und in Europa wurde dadurch eine gewisse Stabilität geschaffen, die erst wieder abnahm, als Bismarck 1890, wegen politischen Differenzen mit dem neuen Kaiser Willhelm II., zurücktreten mußte. Seit 1891 begann die deutsche Aufrüstung des Heeres und der Flotte, damit die Grundlage für den Erwerb von Kolonien geschaffen. 1905/06 kam es schließlich zur ersten Marokkokrise.

Literatur des Naturalismus
Wie in meist jeder anderen Epoche, sind auch im Naturalismus alle Gattungsarten vertreten: Lyrik, Epik und Dramatik. Jedoch unterscheiden sich deren Anteile literarischer Schöpfungen in verschiedenen Zeitperioden. Zwischen 1880 bis 1885 dominierten neben Theorien und Proklamationen vor allem die Lyrik, von 1885 bis 1890 v. a. Prosatexte und seit den 90er Jahren Dramen und Romane.

Die Strömung des Naturalismus lässt sich in drei wesentliche Abschnitte gliedern:
den Frühnaturalismus (1880-1889), den Hochnaturalismus (1889-1895) und den Zerfall des Naturalismus (um 1895).
Es ist jedoch zu beachten, dass die Perioden ineinander überfließen und die Strömung insgesamt schließlich ganz zerfließt.
Im Deutschland bildeten sich zwei Zentren heraus: München und Berlin. Zwei Jahre geben in der Entwicklung des Naturalismus einen entscheidenden Einschnitt: 1885 und 1889. 1885 wurde die Münchener Zeitung Die Gesellschaft gegründet, Arno Holz veröffentlichte seine Gedichtsammlung Buch der Zeit und die Lieder eines Modernen, außerdem wurde die Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere, ein Projekt vieler naturalistischer Autoren, veröffentlicht.. Seit den 1890er Jahren kam es zu einer Überlagerung von naturalistischen und gegennaturalistischen Tendenzen. Ein genauer Abschluss der Epoche lässt sich somit nicht mehr klar feststellen.

Neben den großen Gruppierungen änderte sich auch die Verwendung der Gattungen. Konzentrierte man sich zunächst am Anfang der 80er Jahre auf Lyrik, so wendete man sich später der Prosa zu. In den neunziger Jahren dominierte schließlich das Drama.

Lyrik des Naturalismus
Die wesentlichsten Probleme, die von der naturalistischen Lyrik behandelt wurden, lauten "Soziale Frage" und Großstadt. Obwohl die Großstadtlyrik z.B. schon zur Hälfte des 19. Jahrhunderts in Paris (mit Baudelaire) auftrat, wurde das Sujet erst von den Naturalisten lyrisch erfaßt. Viele Dichter erlebten das Großstadtleben hautnah, als sie von der Provinz in größere Metropolen zogen. Die Probleme der urbanen Lebensweise drücken sich in einer Reizüberflutung aus, die bis weit in den Expressionismus hineinreicht. Dabei wird die Großstadt meist als Ort des Elends und Schmutzes wahrgenommen, ein Ort, an dem alle Aspekte der Natur verloren gegangen sind. Dies zeigt sich z.B. im Großstadtmorgen (1886) von Arno Holz. In der Großstadt liegt eine Spannung zwischen Anreiz und Fluch. Die Erfassung von Modernem und Technik in der Großstadt bleibt im Naturalismus im großen und ganzen aus. Erst später wird das komplexe Großstadtbild, z.B. durch Montage, als Ganzes bewußt. Anonymität und Tempo ließen sich mit den naturalistischen Mitteln nur schwer darstellen. Die soziale Lyrik tauchte meist gemeinsam mit der Großstadtlyrik auf. Ihr Inhalt war meist mit scharfer Sozialkritik geprägt.

Naturalistische Prosa
Die Hinwendung zu Romanen ging mit einer gravierenden Veränderung des literarischen Marktes einher. So erreichten die Romane von Emile Zola eine sehr hohe Auflage im Jahr. Doch der große naturalistische Roman blieb meist nur ein Schatten realistischer Romane von Fontane, H. und Th. Mann. Jedoch in den epischen Kleinformen, wie Skizze, Studie, Novelle, Kurzerzählung, usw. konnten sich die Naturalisten durchsetzen.
Thema der Prosaformen waren u. a. Auseinandersetzungen mit der Beziehung zwischen Dichter und Proletariat, Großstadt und Industrialisierung.
Eine vollkommen neue Erzähltechnik, die erstmals von den Naturalisten verwendet wurde, ist der Sekundenstil. Mit Hilfe dieser Technik wurde Sekunde für Sekunde Raum und Zeit geschildert, mit dem Ziel der Wiederspiegelung der Realität. Begünstigt wurde der Sekundenstil durch Erfindung des Phonographen und die Entwicklung in der Photographie.

Naturalistisches Drama
In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das Drama zum wichtigsten Mittel literarischer Schöpfungen. Die schon in naturalistischer Prosa eingesetzten Techniken, wie Dialekt, Jargon, Milieuschilderung und Sekundenstil, kamen auch im Drama zum Ausdruck. Dialekt, Soziolekt und idiomatische Wendungen fanden häufig Gebrauch, auf dramatische Kunstsprache verzichtete man hingegen. Jenes findet man z.B. bei Hauptmanns Die Weber im schlesischen Dialekt.
Im Drama des Naturalismus ist die Einheit von Ort, Handlung und Zeit der einzelnen Akte eingehalten. Sie soll die Authentizität des Dargestellten verwirklichen. Die meisten Bühnenstücke haben einen offenen Anfang und offenen Ausgang.
Der Zurückgang des Dramatischen, die Reduzierung der Handlung, die Konzentration auf bestimmte Objekte war er Ausgangspunkt für die Entwicklung des epischen Theaters für Brecht. Das Epische war notwendig, um das Soziale darzustellen. Jedoch gibt es eine klare Trennung zwischen naturalistischen Drama und dem epischen Theater Brechts. Die Naturalisten wollten keine Desillusionierung und Verfremdung, im Gegenteil sie verstärkten die Wirkung der Illusionierung noch. Das soziale Drama des Naturalismus bleibt aber auch für andere Theaterformen des 20. Jahrhunderts als Grundlage.
In den konsequenten Formen naturalistischer Dramen herrscht oft Unveränderlichkeit und Unveränderbarkeit des exakt abgebildeten Milieus. Die Helden können an ihrer Situation nichts ändern, sondern müssen sie so hinnehmen, wie sie ist.

Vertreter
Wilhelm Arent (1864-?)
Leo Berg (1862-1908)
Karl Bleibtreu (1859-1928)
Wilhelm Bölsche (1861-1939)
Michael Georg Conrad (1846-1927)
Hermann Conradi (1862-1890)
Heinrich Hart (1855-1906)
Julius Hart (1859-1930)
Gerhart Hauptmann (1862-1946)
Karl Henckell (1864-1929)
Arno Holz (1863-1929)
Henrik Ibsen (1828-1906)
John Henry Mackay (1864-1933)
Johannes Schlaf (1862-1941)
August Strindberg (1849-1912)
Hermann Sudermann (1857-1928)
Leo Tolstoi (1828-1910)
Bruno Wille (1860-1928)
Ernst von Wolzogen (1855-1934)
Emile Zola (1840-1902)

1 Kommentar:

  1. Eine gelungene Prosa sucht man im Naturalismus zumeist vergeblich. Großartig aber Hauptmanns Bahnwärter Thiel oder auch Papa Hamlet von Arno Holz, das sich nebenbei erwähnt sehr schwer lesen lässt. In einer Arbeit habe ich noch Max Kretzer behandelt, der so gesehen im allgemeinen Teich aus Determinismus im Naturalismus mit schwimmt, ohne einen epochenübergreifenden Beitrag zu leisten, dennoch ganz gut geschrieben.

    http://grossstadt-expressionismus.blogspot.de/2013/05/literarische-gro-stadterfahrung.html

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