Mittwoch, 6. Januar 2010

Epochen: Avantgarde, Dadaismus

Avantgarde/ Dadaismus (1915 - 1925)

Begriff
Die Bezeichnung Avantgarde, ein ursprünglich militärischer Begriff, stammt aus dem Französischen und bedeutet 'Vorhut'. Avantgardistische Schriftsteller traten mit einem progressiven Programm und mit ihren Werken inhaltlich und formal in Opposition zu bestehenden literarischen Strömungen. Als avantgardistische Bewegungen verstanden sich der Futurismus, der Dadaismus und der Surrealismus.
Der Dadaismus entstand 1916 in Zürich als Synthese aus futuristischen und expressionistischen Elementen. Als Gründungsdatum für den Dadaismus wird die Eröffnung des ersten Dada-Abends in Zürich von Hugo Ball am 14.04.1916, dem Jahrestag der Französischen Revolution, betrachtet. Mit dem Begriff Dada, das einem kindlichen Ausdruck gleicht, wollte man sich gegen alles abgrenzen, wie z.B. geschlossene Werke, Bürgerlichkeit und klassische Weltbilder. Dada sollte Ausdruck einer Antikunst und Protesthaltung sein.

Historischer Hintergrund
Das wichtigste historische Ereignis während des Dadaismus war der Erste Weltkrieg. Sein Auslösen hatte vielfältige Ursachen. Mit dem Rücktritt Bismarcks 1890 und der Machterlangung Kaiser Wilhelms II. änderte sich die europäische Politik schlagartig. Im Konkurrenzkampf um die noch freien Gebiete der Welt griff nun auch das Deutsche Reich ein, um sich Kolonien für einen "Platz an der Sonne" zu sichern. Dieser Imperialismus führte zum gegenseitigen Wettrüsten der Großmächte. Mit der Abkehr von Bismarcks Bündnispolitik kam es zu einer Destabilisierung des europäischen Kräftegleichgewichts. England, Frankreich und Russland verbündeten sich, während das Deutsche Reich neben seinen Bündnispartner Österreich-Ungarn isoliert wurde. Das Deutsche Reich mischte sich außerdem in mehrere Krisen ein, z.B. die Marokkokrisen 1905/06 und 1911 oder die Balkankriege 1912 und 1913.
Der Anlass des Ersten Weltkriegs war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gemahlin am 28. Juni 1914 in Sarajewo. Die Kriegsschauplätze lagen vor allem im Osten und Westen Deutschlands, an denen die Fronten jedoch bald erstarrten und es zum Stellungskrieg kam. Aber auch in den Kolonien wurde Krieg geführt. Besonders die Kriegsschauplätze im Westen waren von Materialschlachten bestimmt. Die erfolglosen Offensiven führten 1918 zu verstärkten Friedensbemühungen. Am 11. November 1918 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, am 22. Juni 1919 der Friedensvertrag von Versailles angenommen.
Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland beseitigte die Monarchie und führte zur Errichtung einer parlamentarischen Republik. Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die Deutsche Republik, zwei Stunden später Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses die Freie Sozialistische Republik aus. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ging Friedrich Ebert als erster Präsident der Weimarer Republik hervor. Am 11. August 1919 wurde von der Mehrheit der Nationalversammlung die Weimarer Verfassung angenommen.

Dadaistische Literatur
Der Dadaismus verstand sich als neue Kunstrichtung, darüber hinaus jedoch auch als eine neue Geistesrichtung. Dadaistische Werke zeichnen sich einerseits durch die Beibehaltung traditioneller Kunstformen aus. Andererseits proklamierten die Dadaisten Kunstbruch und -verweigerung. Jedoch wäre die Interpretation eines dadaistischen Textes, die allein auf die Frage nach Sinn oder Unsinn ausgerichtet ist, unzureichend und falsch.
Viele dadaistische Werken waren von allgemeinen Grundtendenzen, wie v.a. die ablehnende Haltung gegenüber Krieg, Bürgerlichkeit und traditioneller Kunstprogrammatiken, sowie die Zuwendung zu einer Radikalisierung und Destruktion, bestimmt. Die abwertende Haltung wurde in der Literatur nicht durch einfache Negation erreicht, sondern durch Brüche in der Logik des Textes, indem vorher getroffene Aussagen später wieder aufgehoben wurden.
Formale Gemeinsamkeiten in dadaistischen Werken waren die Dekonstruktion von Sätzen und Wörtern, die Schaffung von Collagen und Montagen und das Prinzip der Simultaneität. Eine wichtige Neuerung, die bei der Literaturproduktion eingesetzt wurde, war das Zufallsprinzip. Zufällig gefundene Textelemente sind dadurch zu einem Teil der Kunst geworden. Das wichtigste Gattungsmerkmal dadaistischer Werke war die Dekonstruktion von Sätzen und Wörtern zur Hervorhebung einzelner Buchstaben und Laute. Die Bedeutungsseite der Wörter wurde dabei vernachlässigt, die Ausdrucksseite hervorgehoben und eröffnete bei der Rezeption zahlreiche Assoziationsmöglichkeiten.
Die Entstehung eines dadaistischen Gedichtes wird von Tristan Tzara in seinem 1920 erschienenem Manifest Um ein dadaistisches Gedicht zu machen sehr anschaulich gezeigt. Dabei wird ersichtlich, daß der künstlerische Schaffensprozeß den Dichter nicht mehr von anderen Menschen heraushebt, sondern daß es für jeden möglich ist, Kunstwerke zu schaffen.
Um ein dadaistisches Gedicht zu machen - Tristan Tzara

Zentrum und Nebenzentren
Das Zentrum des Dadaismus war das Züricher 'Cabaret Voltaire' mit seinen Vertretern, wie Hans Arp, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara. In Deutschland kam es bald zur Herausbildung einzelner dadaistischer Gruppierungen, wie dem Berliner Dadaismus, dem Kölner Dadaismus und dem Privat-Dadaismus Kurt Schwitters. Zu den Berliner Dadaisten gehörten Johannes Baader, Georg Grosz, Raoul Hausmann, die Brüder Herzfelde, Huelsenbeck und Walter Mehring. Der Kölner Dadaismus wurde v.a. durch Hans Arp, Johannes Baargeld und Max Ernst geprägt.

Programm
Im Dadaismus entstanden zahlreiche Programmatiken, die jedoch nicht auf eine einheitliche Richtung ausgerichtet waren. Oft widersprachen sie sich sogar. Eines der wichtigsten dadaistischen Programme ist das 1918 auf einem Flugblatt erschienene Dadaistische Manifest von Huelsenbeck u.a., indem eine Selbstbestimmung vorgenommen wurde. Das Manifest wurde von den wichtigsten Vertretern des Züricher und Berliner Dadaismus unterschrieben. Das Prinzip der Aufhebung vorher getroffener Aussagen wurde im letzten Satz dieses Manifestes angewandt: Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!
Dadaistisches Manifest (Auszug) - Huelsenbeck, u.a.

Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. Hier ist der scharf markierte Scheideweg, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem von dem FUTURISMUS trennt, den kürzlich Schwachköpfe als eine neue Auflage impressionistischer Realisierung aufgefaßt haben. Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt?

Das BRUITISTISCHE Gedicht schildert eine Trambahn, wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen.

Das SIMULTANISTISCHE Gedicht lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.

Das STATISCHE Gedicht macht die Worte zu Individuen, aus den drei Buchstaben Wald tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus, vielleicht Bellevue oder Bella vista. Der Dadaismus führt zu unerhörten neuen Möglichkeiten und Ausdrucksformen aller Künste. Er hat den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht, er hat die BRUITISTISCHE Musik der Futuristen (deren rein italienische Angelegenheit er nicht verallgemeinern will) in allen Ländern Europas propagiert. Das Wort Dada weist zugleich auf die Internationalität der Bewegung, die an keine Grenzen, Religionen oder Berufe gebunden ist. Dada ist der internationale Ausdruck dieser Zeit, die große Fronde der Kunstbewegungen, der künstlerische Reflex aller dieser Offensiven, Friedenskongresse, Balgereien am Gemüsemarkt, Soupers im Esplanade etc. etc. Dada will die Benutzung des neuen Materials in der Malerei.

Dada ist ein CLUB, der in Berlin gegründet worden ist, in den man eintreten kann, ohne Verbindlichkeiten zu übernehmen. Hier ist jeder Vorsitzender, und jeder kann sein Wort abgeben, wo es sich um künstlerische Dinge handelt. Dada ist nicht ein Vorwand für den Ehrgeiz einiger Literaten (wie unsere Feinde glauben machen möchten), Dada ist eine Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann, so daß man sagen muß: Dieser ist ein DADAIST - jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein - nur zufällig Künstler sein - Dadaist sein heißt, sich von den Dingen werfen lassen, gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt, das Leben in Gefahr gebracht haben (Mr. Wengs zog schon den Revolver aus der Hosentasche). Ein Gewebe zerreißt sich unter der Hand, man sagt ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher will. Jasagen - Neinsagen: das gewaltige Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des echten Dadaisten - so liegt er, so jagt er, so radelt er - halb Pantagruel, halb Franziskus und lacht und lacht. Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies Manifest sein heißt Dadaist sein!

Lautgedichte und Buchstabengedichte
Zu den bekanntesten dadaistischen Werken zählen die Laut- und Buchstabengedichte. Das Ausgangsmaterial für Lautgedichte sind Wörter, die dekonstruiert und zerstört werden, bis nur noch einzelne Laute übrig bleiben. Der Schwerpunkt der Lautgedichte ist die Akustik. Die wichtigsten Lautgedichte stammen von Hugo Ball, wie Karawane und Seepferdchen und Flugfische.
Buchstabengedichte sind v. a. auf den optischen Ausdruck ausgerichtet. Das Ausgangsmaterial für Buchstabengedichte sind auch Wörter, die jedoch nicht zu Lauten, sondern zu graphischen Zeichen dekonstruiert werden. Zu den wichtigsten Verfassern von Buchstabengedichten gehört Raoul Hausmann.

Merzdichtung
Die Merzdichtung ist ein Teil der von Kurt Schwitters geschaffenen Merzkunst. Die Bezeichnung Merz entnahm er den Wort Kommerz. Seine Werke veröffentlichte Schwitters in 24 Heften der zwischen 1923 bis 1932 erschienenen Zeitschrift Merz. Die Merzdichtungen sind abstrakte Dichtungen. Sie wurden aus Teilen fertiger Sätze aus Zeitschriften, Katalogen, Plakaten u.a. gebildet. Schwitters berühmtestes Merzgedicht ist An Anna Blume (1919), dessen wichtigste Ordnungsprinzipien Körper, Farben, Sinne und Grammatik sind.

Vertreter
Hans Arp (1886-1966)
Johannes Baader (1875-1955)
Johannes Baargeld (1892-1927)
Hugo Ball (1886-1927)
Max Ernst (1891-1976)
Georg Grosz (1893-1959)
Raoul Hausmann (1886-1971)
Emmy Hennings (1885-1948)
Helmut Herzfelde/ John Heartfield (1891-1968)
Wieland Herzfelde (1896-1988)
Richard Huelsenbeck (1892-1974)
Marcel Janco (1895-1984)
Walter Mehring (1896-1981)
Hans Richter (1888-1976)
Kurt Schwitters (1887-1948) Tristan Tzara (1896-1963)

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