Freitag, 8. Januar 2010

BRD: Gesellschaft im Wandel (Teil 5)

Gesellschaft im Wandel 1962-1989

Auch als 1960 die Vollbeschäftigung erreicht, die Kriegszerstörungen weitgehend beseitigt, der Vorkriegs-Lebensstandard überschritten und die Nachholbedürfnisse befriedigt waren, ging das epochale Wirtschaftswachstum weiter. Deutschland hatte nach dem Krieg mit einem niedrigen Lebensstandard begonnen. Aufgrund niedrigerer Löhne und der Unterbewertung der DM auf dem Weltmarkt bis 1969 war es besonders konkurrenzfähig, die Kapitalbildung war hoch. Vor allem wenig industrialisierte Regionen wie Bayern profitierten von der Zuwanderung von Großunternehmen und Branchenkernen, die aus den Vertreibungsgebieten, der DDR oder Berlin zuwanderten. Auf diese Weise entwickelten sich auch bis dahin benachteiligte Regionen zu modernen Industriezentren, und regional ergab sich eine weitgehende Ausgewogenheit.

Als 1961 der Arbeitsmarkt erschöpft und der Zustrom aus der DDR abgeschnitten war, zudem der Aufbau der Bundeswehr dem Arbeitsmarkt Kräfte entzog, ging die BRD in großem Ausmaß zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte über. Wie vorher die Vertriebenen zogen sie dorthin, wo die Industrie sie brauchte. Zunächst wurden sie für ein bis zwei Jahre angeworben und leisteten meist schwere oder unbeliebte Arbeit.
Da aber ganze neue Produktionslinien etwa bei den Automobilunternehmen auf ihrer Arbeitskraft beruhten, wurden sie für die Industrie bald unverzichtbar. Die Vertragszeiten verlängerten sich von Jahr zu Jahr und die Vorstellung von der Zeitweiligkeit des Aufenthalts wurde immer mehr Fiktion. Gleichwohl wurde mit dem Schlagwort "kein Einwanderungsland" an ihr festgehalten. Die rechtlich marginale Existenz der "Gastarbeiter", die ökonomisch zum Kern der Industriearbeiterschaft gehörten, wurde zum permanenten Provisorium – wie das der BRD selbst.

In den 60er Jahren gewann die BRD Selbstbewusstsein hauptsächlich über ihre ökonomische Leistung und in der Zeit der Vollbeschäftigung hatten fast alle Bürger eine reale Möglichkeit, daran zu partizipieren. Da Arbeitskräfte knapp waren, entwickelten sich die unteren Einkommen günstig.
Als die dringendste Wohnungsnot befriedigt war, nahm der Eigenheimbau zu. Alle Schichten wuchsen immer mehr in die Konsumgesellschaft hinein. Die großen Bevölkerungsumschichtungen verstärkten diesen Prozess, und regionale ebenso wie konfessionelle Identitäten verloren an Bedeutung. Insgesamt kam es zu einer sozialen Homogenisierung der Bevölkerung und der Lebensstile. Immer mehr Menschen arbeiteten als abhängig Beschäftigte. Der Anteil der Landwirte in den alten Bundesländern sank zwischen 1950 und 1997 von 24,6% auf 2,5%, ihr Anteil an der Wertschöpfung sank auf 1,1%. Die Zahl der mithelfenden Familienangehörigen und Hausangestellten ging zurück, die Anteile kommerzieller und administrativer Dienstleistungen nahmen zu.

Während die Lebenserfahrung 1914-45 in extremer Weise nationalstaatlich eingeschnürt worden war, wurde die BRD von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr ein offenes Land. Jahr für Jahr reisten mehr Menschen als Touristen ans Mittelmeer und in andere europäische Länder, seit den 80er Jahren auch stärker nach Afrika, Asien und Amerika.
Die kommerzielle Jugendkultur prägte eine Generation nach der anderen, Englisch wurde immer mehr zur dominierenden Sprache der Unterhaltungskultur. Im Film setzten sich amerikanische Genres vom Western bis zu den soap operas durch. Auch die Hochkultur gewann ihre Internationalität zurück. Wirtschaft und Wissenschaft wurden internationaler, auch hier wurde Englisch zur dominierenden Sprache.

Solange die Wirtschaft wuchs, konnte auch immer mehr verteilt werden. Insbesondere wuchsen die Infrastrukturausgaben. Straßen, Autobahnen und Kanäle, Wasser- und Abwassersysteme, Gas- und Ölleitungen wurden modernisiert. Auch die Renten konnten mit dem Rhythmus des Wachstums erhöht werden. Stockte das Wachstum, so wurden Anpassungen notwendig.
Mit dem Erfolg der Rentenformel ergab sich allerdings eine Unausgewogenheit zwischen den Leistungen für die Alten und denen für die Kinder. Kindergeld und Kinderfreibeträge blieben bis 1998 sehr bescheiden. Benachteiligt blieben durch die Rentenformel, die sich am Verdienst orientierte, die Mütter, die geringe oder keine Einkommen gehabt hatten. Früher und dramatischer als in anderen Industrieländern gingen die Kinderzahlen zurück. 1970 fielen sie unter die Reproduktionsrate, heute sind die nachwachsenden Jahrgänge um ein Drittel schwächer als die Erwachsenen-Jahrgänge. Dem entsprechen andererseits hohe Einwanderungsraten.
Bei der Wiedervereinigung wiederholte sich der Geburtenrückgang in Ostdeutschland in zugespitzter Weise, die Geburten fielen auf ein Drittel der Ausgangswerte.

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