Sonntag, 10. Januar 2010

DDR: Ein Sozialstaat?

Die DDR als Sozialstaat

In der Propaganda der DDR - nicht nur gegenüber der Bundesrepublik - nahmen die sozialen "Errungenschaften" einen breiten Raum ein. Als seit Mitte der siebziger Jahre in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit rapide zunahm, nutzte die DDR das Argument der Vollbeschäftigung und zugleich der Beschäftigungsgarantie in ihrem Staat intensiv, um die soziale Sicherheit in der DDR herauszustellen. Sie verwies dabei auf das in der Verfassung fixierte Recht auf Arbeit (das zugleich aber auch eine Verpflichtung enthielt).
Seit Mitte der fünfziger Jahre gab es in der DDR keine statistisch signifikante Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Mehr und mehr machte sich Arbeitskräftemangel bemerkbar, der in den achtziger Jahren zu einem Welthöchststand an Frauenbeschäftigung führte. Mehr als 90 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter besaßen einen Arbeitsplatz.

Die Ursachen von Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel sind vielschichtig. Zum ersten zählt dazu die seit der Nachkriegszeit weitgehend, ab 1972 fast vollständig verstaatlichte Industrie. Die zentral verwaltete Wirtschaft konnte ohne Rücksicht auf betriebswirtschaftliche Kosten und Rentabilitätsrechnungen Arbeitskräfte binden und sogar "horten". Die Staatswirtschaft bot den organisationspolitischen Hintergrund für eine Beschäftigungsgarantie.
Zum zweiten wurde das von der demographischen Struktur der DDR begünstigt. Bis zum Bau der Mauer im August 1961 wanderten rund 2,7 Millionen Menschen, vorwiegend im arbeitsfähigen Alter, aus der DDR nach Westdeutschland ab.
Zum dritten ist auf den außerordentlich hohen Anteil an "unproduktiven" Stellen in Partei, Verwaltungen sowie dem überbordenden "Sicherheits"-Bereich zu verweisen. Mit der Unterhaltung eines derart aufwendigen Systems der "Beschäftigungsgarantie" war eine kleine Volkswirtschaft wie die der DDR letztlich weit überfordert.

Zudem war die DDR-Wirtschaft während der gesamten Zeit ihrer Existenz eine Mangelwirtschaft. Die Produktionskapazitäten waren nie ausreichend, um den Waren- und Dienstleistungsbedarf des Binnenmarktes und erst recht nicht des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) zu befriedigen. In der Tat gab es zwar in der DDR alte Industrieregionen mit einem vergleichsweise hohen Industrialisierungsgrad, aber es unterblieben weitgehend Rationalisierungen und Modernisierungen, wie sie in den westlichen Staaten üblich waren.
Daher war eine Produktionsausweitung nur durch Mehrarbeit möglich. Diesem Prinzip folgten die Honecker-Führung und vor allem der Wirtschaftsverantwortliche Günter Mittag. Sie verordneten der DDR-Wirtschaft einen Kurs der "Intensivierung". Das bedeutete Verlängerung der Maschinenlaufzeiten, Übergang zur Mehrschichten-Arbeit sowie den Verzicht auf die vielfach erwartete Arbeitszeitverkürzung.
Da es zudem in der Planwirtschaft (durch Mängel der Planung und des Transportwesens) seit den siebziger Jahren häufig zu Stockungen im Produktionsablauf kam, waren die Betriebe gezwungen, durch konzentrierte Aktionen Rückstände aufzuholen und Strafen zu vermeiden.
Aufgrund dieser Wirtschaftsstruktur, die letztlich selbst zerstörerisch gewesen ist, war eine Arbeitsplatzgarantie völlig unproblematisch. Die Kehrseite war eine verdeckte Arbeitslosigkeit durch Hunderttausende unproduktiver Arbeitsplätze. Dieser Aspekt sozialer Sicherheit, diese "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" trug gleichwohl fraglos zur inneren Stabilisierung bei.

Die Planwirtschaft der DDR verfügte nur über ein bescheidenes Instrumentarium der Arbeitskräftelenkung. Das beschränkte sich im Wesentlichen auf die Steuerung der Berufswahl von Jugendlichen und der "Umsetzung" von Arbeitskräften im Falle von Schließungen oder Neubauten von Betrieben.
Die Berufsberatung in Schulen und Betrieben hatte die komplizierte Aufgabe, den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft und - bei starken Abwanderungstendenzen vom Land - der Landwirtschaft mit den Interessen der Schulabgänger in Einklang zu bringen. Seit Mitte der siebziger Jahre sollten jeweils mehr als 100 000 Menschen in neue Betriebe "umgesetzt" werden und aus ihren alten Arbeitsstellen ausscheiden.
Diese Gratwanderung der Politik zwischen Modernisierung und sozialer Sicherheit stieß nicht selten auf eine reservierte Haltung bei den Betroffenen. Insgesamt erwies sich die Beschäftigungspolitik der DDR als zweischneidiges Instrument. Sie gewährleistete nicht die notwendige Balance zwischen wirtschaftlicher Effizienz, Modernisierungsfähigkeit, Mobilität der Beschäftigten und dem Erfordernis sozialer Sicherheit.

Ein weiteres Feld, der Wohnungsbau, bietet ebenfalls ein ambivalentes Bild. Für die DDR stand der Wiederaufbau der Industrie und der Verkehrswege nach der Behebung der dringendsten Kriegsschäden an Wohnungen im Vordergrund. Zugleich wurde das Dilemma durch einen hohen Wanderungsverlust nach Westdeutschland gemildert. Insgesamt war bis in die sechziger Jahre hinein der Wohnungsbau recht bescheiden; zugleich war der Wohnungsbestand überaltert, die Bauten vielfach vernachlässigt und in der Ausstattung unmodern. Enteignete Mietshäuser und das Eigentum von in die Bundesrepublik abgewanderten Bürgern wurde von kommunalen Wohnungsverwaltungen mehr schlecht als recht verwaltet.

Nach dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 zeigte eine Wohnungszählung in der DDR nicht nur düstere Ergebnisse, sondern wies auch nach, dass die Wohnungsfrage zu den dringendsten sozialen Problemen in der DDR gehörte. Als Reaktion darauf legte die Parteiführung 1973 ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm fest. Man versprach der Bevölkerung, bis 1990 die "Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen".
Es sollten bis zu diesem Zeitpunkt rund drei Millionen Wohnungen neu gebaut oder modernisiert werden. Neben dem nach wie vor bevorzugten Bau normierter, aus vorgefertigten Betonplatten montierter Großblock-Häuser sollten nun auch die innerstädtischen Altbauten in Stand gesetzt werden. Es entstanden in dieser Phase vor allem die monotonen Großsiedlungen "auf der grünen Wiese" wie Berlin-Marzahn, Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau oder Rostock-Lichtenhagen.

Das ehrgeizige Ziel wurde verfehlt. Das Neubau-Programm war angesichts der immer knapperen Ressourcen in der Wirtschaft nicht einzuhalten. Die mit recht großem Pomp inszenierte Übergabe der dreimillionsten Wohnung durch Erich Honecker noch kurz vor der Wende erwies sich schlichtweg als statistischer Trick. Tatsächlich wurden weniger als zwei Millionen Wohnungen fertig gestellt. Zugleich verfiel die Altbau-Substanz rascher, als die Sanierungsmaßnahmen greifen konnten. In der Bilanz ergab sich so trotz aller Anstrengungen ein Rückgang an nutzbaren Wohnungen.

In einer weiteren Beziehung scheiterte das Wohnbauprogramm der SED unter Honecker. Das formulierte Ziel war es, soziale Segregation zu vermeiden. In die Neubaugebiete sollten vornehmlich Arbeiterfamilien, junge Familien mit Kindern und Jungverheiratete einziehen. Dadurch ergab sich indes ein sozialstruktureller Unterschied zwischen Alt- und Neubaugebieten. Arbeiter und Rentner waren in vielen Stadtzentren in alten Wohnungen überrepräsentiert, während jüngere, häufig höher Qualifizierte eher bereit waren, in die oft an den Stadträndern gelegenen Neubauviertel überzusiedeln.
Das führte auch zur ungleichen Verteilung von Schulen oder Kindergärten: Diese fehlten mitunter in den Innenstädten, während in den Trabantensiedlungen aus Finanzmangel Einkaufsstätten oder Grünanlagen nicht mehr gebaut werden konnten. Insgesamt zeigt die Wohnungsbaupolitik der SED, dass sie die eigenen Ansprüche und Vorgaben nicht einlösen konnte, sondern darüber hinaus noch neue soziale Probleme schuf, die in dieser Strenge in Westdeutschland nicht auftraten.

Die Gesundheits- und Rentenpolitik der DDR bietet ebenfalls ein ambivalentes Bild. Die Konzentration ärztlicher Leistungen in staatlichen und betrieblichen Polikliniken bewirkte einen Nivellierungsprozess der Gesundheitsfürsorge. Prinzipiell stand die medizinische Grundversorgung jedem offen. Trotz des in den offiziellen DDR-Selbstdarstellungen immer wieder gelobten Gesundheitssystems ließ dessen materielle Ausstattung zu wünschen übrig. Die allgemeinen Versorgungsmängel der achtziger Jahre berührten auch nachhaltig die medizinische Versorgung.

Demgegenüber zweifelsfrei stiefmütterlich wurden Rentenansprüche behandelt. Die Alters-Mindestrenten lagen recht niedrig, sie wurden nach wenigstens 15 Arbeitsjahren gewährt und reichten gerade zum Existenzminimum. Auch die Kombination unterschiedlicher Renten (Witwen-, Invaliden- oder Altersrenten) konnte das Mindestniveau im Regelfall nur bescheiden anheben. Die Rentenversorgung war trotz des zugrunde liegenden Versicherungsprinzips faktisch eine staatlich gewährte Grundversorgung. Die Rentnergenerationen der DDR standen über lange Zeit hinweg an der Grenze zu einer Altersarmut.
Diesem Trend steuerten Partei und Staat seit 1971 mit der Einführung einer Freiwilligen Zusatzrentenversicherung entgegen. Damit wurde die Möglichkeit gegeben, über freiwillige Beiträge später höhere Rentenansprüche zu erwerben, zu insgesamt günstigen Konditionen. Am Vorabend der Wende hatten mehr als 70 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung davon Gebrauch gemacht.
Aber daneben gab es ein System von Renten-Privilegien, die der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur verschlossen waren, sondern vielfach auch verborgen blieben. So erhielten die Angehörigen der "Kampfgruppen", einer paramilitärischen Formation der SED, ebenso besondere Rentenvergünstigungen wie Bergleute, Polizisten, Zollbedienstete oder Lehrer. Die "Staatsnähe" dieser Gruppen (mit Ausnahme der Bergarbeiter) ist unübersehbar.

Ehrgeizige Pläne verfolgte die DDR-Führung auch auf dem Feld der Bevölkerungspolitik. Ihr Ziel, die Drei-Kinder-Familie, hat die DDR nie auch nur annähernd erreichen können. Daraus ergaben sich eine Reihe von neuen Problemen: Die Tendenz zur Ein-Kind-Familie setzte sich durch, die traditionellen Familienbeziehungen lockerten sich. Die gravierendste Folge war zweifellos der Anstieg der Scheidungsrate auf ein sonst in der Welt nicht erreichtes Niveau.

Der Versuch, Mutterschaft und Arbeitsleben auf Dauer miteinander zu verbinden, führte zwar zu einer vergrößerten wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen, aber angesichts des wenig gewandelten Geschlechterverhaltens zu einer Dreifachbelastung durch Betrieb, Kinder und Haushalt. Trotz gestiegenen Qualifikationsniveaus blieben Frauen jedoch überproportional häufig in einfacheren, das heißt eben auch schlechter bezahlten Arbeitsplätzen bzw. Berufen tätig.

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