Samstag, 30. Januar 2010

Bernhard Schlink: Der Vorleser (Anmerkungen)

„Der Vorleser“ von Bernhard Schlink

Der Inhalt
In dem Roman von Bernhard Schlink „Der Vorleser“ geht es um einen minderjährigen Jungen namens Michael Berg, der mit der 36 Jahre alten Hanna Schmitz eine Liebesbeziehung führt und dieser Jahre nach der Trennung als Angeklagte SS Wächterin erneut begegnet.
Michael lernt Hanna kennen, als er sich auf der Straße aufgrund einer Gelbsuchterkrankung übergeben muss und diese ihm dabei hilft, sich zu säubern. Es entwickelt sich eine konfliktreiche Liebesbeziehung, die vor allem darin besteht, dass er ihr aus verschiedenen Büchern vorliest und sie ihn in die körperliche Liebe einführt.
So plötzlich wie sie sich kennen lernen, so plötzlich verschwindet Hanna aus seinem Leben.
Erst Jahre später als Student der Rechtswissenschaft erkennt Michael während eines Gerichtsprozesses Hanna auf der Anklagebank. Sie wird beschuldigt, während des 3. Reiches als Aufseherin Mitschuld am Tod einer jüdischen Gruppe zu tragen, die in einer abgeschlossenen Kirche verbrannt sind. Obwohl sie als Analphabetin nur indirekt Schuld an diesem Verbrechen hat, bekennt sie sich für schuldig und wird zu mehreren Jahren Haft verurteilt.
In dieser Zeit beginnt Michael, wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen, indem er ihr gesprochene Texte auf Tonband zukommen lässt. In der Nacht auf ihren Entlassungstag nimmt sich Hanna das Leben.
Thematisch geht es in dem Roman von Bernhard Schlink nicht nur um die eigentliche Liebesbeziehung der beiden Protagonisten, sondern auch um den Umgang mit der Nazigeschichte und um die moralische Frage, wie Menschen zu be- bzw. verurteilen sind.

Charakteristik von Michael Berg
Der Protagonist und Erzähler des Romans „Der Vorleser“ ist Michael Berg. Michael erzählt in der Rückblende in der Funktion des Juristen, der von seiner Frau Gertrud geschieden ist und eine Tochter namens Julia hat.
Der Leser lernt Michael in verschiedenen Phasen des Lebens kennen, als Schüler, Studenten, Referendaren und schließlich als Juristen. Insofern kann auch der Roman als Entwicklungsroman gelesen werden, welcher die zentralen Stationen im Leben eines jungen Mannes beschreibt.
Die zentralen Stationen seines Lebens können eingeteilt werden in: erste sexuelle Erfahrungen als Jugendlicher, Abschied von den Eltern, Lehrjahre der Studienzeit und Existenzgründung als Jurist. Alle seine Lebensphasen sind von seiner Beziehung zu Hanna geprägt. Keine dieser Phasen kann Michael wirklich unbekümmert durchleben, weil er stets an Hanna denken muss. Darin zeigt sich eine Abhängigkeit, welche Michael bis zum Ende nicht aufzugeben im Stande ist und ihn unfrei macht. (S.164/165, S.84/85).
Mit der ersten Trennung, die von Hanna plötzlich und ohne offensichtliche Anzeichen vollzogen worden ist, kann Michael Zeit seines Lebens nicht ausgeglichen umgehen. Allein wegen der großen Enttäuschung, die Hannas plötzliches Verschwinden in ihm bewirkt, ist er nicht in der Lage, normal mit seiner Gefühlswelt umzugehen.
Aus Angst vor weiteren Enttäuschungen zeigt er sich anderen gegenüber gleichgültig, verschlossen und manchmal gefühlskalt. Er ist in dieser Zeit nicht er selbst. Sein nach außen dargestellter Charakter ist nicht das Spiegelbild seiner wahren Seele, die immer schon sehr empfindsam gewesen ist. (S. 159/169).
Das Ereignis der Trennung zeigt, wie tiefgründig Michael Berg Innenleben beschaffen ist und wie außerordentlich schwer es für ihn ist, seine Gefühle zuzulassen und nach außen zu zeigen. Die Gefühlskälte, die er nach der Trennung zunächst anderen gegenüber verspüren lässt, zeigt er mitunter auch Hanna gegenüber, wenn er ihre späten Briefe nicht erwidert oder sie nicht im Gefängnis besucht oder ihr auch während des Prozesses schon nicht zur Seite steht und ihr hilft, obwohl er es eindeutig könnte.
Sein Leben ist seit dem Prozess vor allem geprägt von Schuldgefühlen und von offenen Fragen, auf die er keine endgültige Antwort erhält. Auch über ihren Tod hinaus hat Hanna Michael und sein Gewissen fest im Griff. (S. 205)
Nicht zuletzt wegen der ihn quälenden Vorwürfe wollte Michael Berg seine Lebensgeschichte niederschreiben, wenngleich ihm eine moralische Erlösung nicht hundertprozentig gelingt.
Die Ich Perspektive trägt dazu bei, dass der Leser viel über die Gedankenwelt und das Wesen von Michael erfährt. Dennoch zeigt er sich gerade darin soweit verschlossen, als dass ihm innerhalb seiner Erinnerungswelt nicht immer eindeutige Standpunkte zuteil kommen. Besonders ausgeprägt ist die Freude und die Erfahrung, die er durch Hanna erfährt sowie auf der anderen Seite der Schmerz bzw. die schmerzvolle Erinnerung an den Verlust der Beziehung. Michael zeigt sich hierin einmal mehr als sensibler Mensch, den die Beziehung zu Hanna ein Leben lang begleitet. Dennoch ist die moralische Verpflichtung, mit der Elterngeneration, nämlich in Gestalt von Hanna, ins Gericht zu ziehen, überladend. So überladend, dass er selbst kaum damit umzugehen weiß. Im Gerichtssaal vermag Michael es nicht, öffentlich Farbe zu bekennen zu Hanna und ihr somit auch keinen Schutz oder eine Hilfestellung zu geben. Hierin zeigt er Schwäche, wenngleich diese sofort mit der moralischen Verurteilung von Hannas Nazivergangenheit aufgehoben wird.
Die Verpflichtung, ein Schuldgefühl gegenüber den ermordeten Juden anzunehmen, ist stets größer als das Eingeständnis, das er sie vielleicht immer noch liebt. So wie seine weiteren Beziehungen scheitern, so scheitert letztlich auch die Fortsetzung der Beziehung zu Hanna. Michael zeigt sich dabei nicht geradlinig bzw. nicht wirklich charakterstark. Denn entweder müsste er den Kontakt zu Hanna gänzlich abbrechen, auch bzw. insbesondere nachdem sie verurteilt wird oder aber er müsste zu ihr stehen und ihre Briefe beantworten, wenn er sich über die moralische Verpflichtung hinwegsetzen würde. Beides geschieht nicht. Er lässt die Dinge geschehen und wählt den einfachen Weg. Er liest ihr vor, nimmt also wieder die Rolle seiner Jugend ein, und erhält dafür ein fast reines Gewissen, insofern er sie immer noch als Naziverbrecherin verurteilen kann.
Interessant wäre dabei die Zeit nach ihrer Entlassung gewesen. Doch der Erzähler setzt genau hier ein Ende, um die Gewissenskonflikte von Michael nicht ad absurdum zu führen. Der Tod Hannas befreit letztlich auch Michael. Erst nach dem Tod setzt er sich mit der jüdischen Tochter einer damals Verstorbenen auseinander, die ihm jedoch genauso wenig Absolution erteilen kann. Das Geld, das Hanna den Judenopfern bereitstellt wird nicht angenommen. So verfällt Michael erneut in die Rolle des Vorlesers, indem das Geld für eine Institution für Analphabeten zur Verfügung gestellt wird.
Die Charaktere Michaels geht hier nahtlos über in eines der Grundthemen des Romans, nämlich das der Schuld und der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die am und im 3. Reich beteiligt waren. Auch philosophisch angehauchte Momente, wie zum Beispiel das Gespräch mit seinem belesenen Vater helfen nicht dabei, eine Eindeutigkeit seiner Gedankengänge herbeizuführen. Eher führen gerade diese Momente, ähnlich wie seine eigene Verhaltensweise während des Gerichtsprozesses zu einer selbstorientierten Gefälligkeit, die im Schmerz, in der sehnsuchtsvollen Erinnerung und in der Unentschiedenheit ihren Platz haben.

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