Freitag, 15. Januar 2010

Alfred Anders: Sansibar oder der letzte Grund (Anmerkungen)

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund

geb. 1914 – gest. 1980
Schriften: Kurzgeschichten (Fahrerflucht), Hörspiele, Erzählungen

Epoche / Gattung:
Roman; Sansibar gilt als moderne deutsche Nachkriegsliteratur.

Der Freiheitsgedanke und Realitätssinn:
Bezug zu Jean Paul Sartre:
„In der von ihm gewählten Freiheit trifft der Mensch für sich und für andere Entscheidungen, ohne „vorgefasste Werte und Gebote“. Er rechtfertigt seine Existenz allein durch sein Handeln, und erst dadurch wird „Wirklichkeit“ erzeugt.“
Rückschluss auf Sartre: Das Wagnis der Freiheit steht dem Nichts gegenüber. Freiheit wagen bedeutet Verwirklichung der menschlichen Existenz. So auch in dem Roman: Das Handeln der Figuren rechtfertigt deren Existenz und die humane Wertvorstellung.
Die Freiheit wird bei Sansibar nicht mehr durch individuelle Willenskraft geschaffen, sondern als abstrakter Vorgang in einer dramatisch verflochtenen Situation erprobt und von einer Solidargemeinschaft aus Notwendigkeit existentiell erfahren.
Sansibar hält als Roman ein realistisches geographisches und zeitliches Umfeld bereit, das jedoch wieder in ein Allgemeines abhebt. Das Schicksal von fünf Menschen wird ausschnitthaft in einer komplexen Grenzsituation dargestellt.

Die Freiheit als Fluchtpunkt:
Knudsen hat sich von der Partei losgesagt. Judith fühlt sich ausgestoßen, ist irritiert und innerlich dem Tod nahe, dem Glauben fern. Sie hat kein Lebensziel und keine Kraft zur Wahl. Dem Jungen geht es um abenteuerliche Ungebundenheit, um die Freiheit, sich außerhalb der Heimat zu bewegen. Helander hat schwere Zeiten hinter sich und den Glauben an Gott und die Menschen verloren. Gregor hat sich schon entschieden, den Weg in die Freiheit, von der Partei weg, zu gehen.
Der Grad der Freiheit und der Brechung der Freiheit ist für jeden der Beteiligten ein anderer.
Knudsen erfährt die Freiheit und nutzt sie, um zu seiner Frau zurückzukehren. Seine Wahl ist von hoher moralischer Instanz.
Judith gewinnt ihre körperliche Freiheit.
Der Junge erfährt die Freiheit für einen kurzen Augenblick. Die Erkenntnis macht ihn reifer für die Zukunft.
Helander erreicht sein wichtigstes Ziel, den Selbst- und Glaubenszweifeln zu entkommen. Er kommt mit sich ins Reine, auch wenn er nicht mehr weiterlebt.
Gregors Standpunkt ist verändert. Seine Freiheit gibt er für Judith, die nicht frei handeln kann.
Alle befreien sich durch eine altruistische Tat, die keinem Befehl und keiner Ideologie entspricht, sondern dem Versuch, die Tatsache des Nichts, dessen Bestätigung die anderen sind, wenigstens für Augenblicke aufzuheben.


Zeit und Ort:
Handlungsstränge
Es ergeben sich fünf größere Handlungsstränge, die allerdings in der Verflechtung der Figuren miteinander wieder aufgelöst wird.
Der Junge betritt die Bühne zu erst und verlässt sich zuletzt. Er hat das erste und das letzte Wort. Für ihn gibt es Handlungspausen.
Fluchtpunkte sind Dänemark, Schweden oder Sansibar. Konkrete und fiktive Fluchtpunkte.
Es gibt keine chronologische Abfolge des Inhalts.
Es sind keine Kapitel im eigentlichen Sinne vorhanden, sondern Abschnitte, die überschrieben sind. 1-37.
Das gesamte Geschehen erstreckt sich über einen Zeitraum von ca. 27 Stunden ohne Zeitverschiebungen, Oktober 1937 ca. 14.30 und 17.00 Uhr des nächsten Tages.

Zeitliche Strukturen der Personen:
Der Junge und seine Träume, die ihn durch den Roman begleiten. Gregor, der auch nach einer Alternative sucht.
Helander, der an der Gegenwart leidet.
Knudsen, dessen Illusionen verflogen sind.
Judith auf der Suche nach einer neuen Lebensmitte.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden voneinander abgesetzt, die in den jeweiligen Dialogen bzw. Gedankenströmen / Reflexionen auf und abgeblendet sind.
Alle Figuren haben ihre eigene Vergangenheit, die sie entweder verdrängen (Knudsen, Judith) oder mit der sie sich bewusst auseinandersetzen (Junge, Gregor, Helander). Die zurückliegenden Erfahrungen bestimmen ihr Verhalten gegenüber der Zukunft, abwarten, sich mitziehen lassen, nüchtern bleiben in der Sache, keine Fehler machen, pragmatisch handeln, im Leben wieder einen Sinn finden und Erkenntnis und Sinnfindung.
Helander setzt sich am stärksten mit der Vergangenheit auseinander, da er sie in der symbolischen Kraft der Plastik erkennt. Er nimmt den Kampf auf mit der Vergangenheit und der Gegenwart, findet Glaube und Hoffnung wieder. Lediglich Judith hat keine aktive Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit versus Zukunft.

Der Ort
Rerik ist der Ort der Handlung, hinter dem das Meer liegt und damit die Freiheit.

Erzählhaltung:
auktoriale Erzählhaltung mit kontrapunktisch angelegten Figuren.
Simultanpräsenz der Figuren. Fünf Figuren werden gleichzeitig in unterschiedlichen Beziehungsmomenten betrachtet. Der Junge ist als einziger auf alle übrigen Personen gerichtet.

Relation der Figuren zueinander:
große Schnittmenge der jeweiligen Beziehungsgeflechte.
Die Plastik bildet gewissermaßen das Zentrum, in dem sich die Beziehungen einander knüpfen.
Es ist ein gemeinsam erlebtes Schicksal, das kollektiv erfahren wird. Eine Einzelbefreiung kann es wohl nicht geben.

Holzfigur:
Die Holzfigur, als Plastik, „Der lesende Klosterschüler“ stammt ursprünglich von Barlachs Plastik aus dem Jahr 1930. Sie hat Gewicht, Strenge, Ausdruckskraft. Vgl. Andersch, S.42. Jede andere Person beginnt eine Beziehung aufzustellen zu der Figur. Der Junge bildet hier eine Ausnahme, er erfährt erst auf dem Fluchtboot von der Figur.
Die Holzfigur wird zur Symbolfigur für die innere und äußere Freiheit der Menschen. In Gregor hebt sie den Widerspruch zwischen politischer und ästhetischer Existenz auf. Helander nimmt sie jeden Zweifel am Recht, an der Notwendigkeit zum Aufbegehren, jede Angst auch vor der Macht und der Zerstörungsgewalt der Anderen als „Inbegriff freier Kunst.“

Sprache - Stil:
Knappheit an Dialogen trotz beständig neuer Kommunikationssituationen.
Die knappen Dialogansätze münden meistens in nachfassende Reflexionen, die auf das Gegenüber gerichtet sind, entweder als Erinnerung oder als zukunftsertastende Gedankenspiele.
Bewusstseinsströme charakterisieren sowohl die Handlung als auch den Standort der Figuren.
Symbolcharakter hat die gesamte Szenerie als auch die Holzfigur im Besonderen, das der Freiheit.
Es überwiegt trotz der vielen Dialoge das Erzählerische und die beschreibende Darstellung, das Selbstgespräch oder die Selbstreflexion.
Soziale Strukturen werden noch durch die Sprache sichtbar. Zugehörigkeiten gesellschaftlicher Natur zum Beispiel zwischen Helander und Judith, die eine gleiche Sprache sprechen – Sprache des gebildeten Bürgertums. Gregor spricht die geschulte Parteisprache / Funktionärssprache. Knudsen die einfache Sprache.
Es gibt eine Reihe formelhafter Formulierungen: „dachte er…“, eine ausladende Breite im Satzbau, eine sehr gezielte Verwendung von Adjektiven.
Ein Nebeneinander von betonter Sachlichkeit innerhalb des Erzählens.
Sprache findet ihr Schweigen in der Kommunikation mit den Anderen, mit den Nazis, die nur die Gewalt kennen. S. 154. Es gibt keine Symmetrie der Sprache mehr – keine Empfänglichkeit. Auf gleicher Ebene sprechen = symmetrische Kommunikation.
Die fünf Figuren finden hingegen eine gemeinsame Sprache miteinander. Das ebnet den Weg in die Freiheit.
Stimmung: man bekommt eine Ahnung von den Empfindungen der Menschen und von der Gesamtatmosphäre des Misstrauens und der Angst. Es entsteht somit ein authentisches Panorama, das durch die eindringliche Erzählkunst plastisch zum Ausdruck kommt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen